Meine Haltung – die Realität ist unvorhersehbar.
In einer gewaltsamen Situation gibt es keine festen Regeln, keine festgelegten Muster. Kein Angreifer wird sich an ein Drehbuch halten, und niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, wie ein Angriff ablaufen wird.
Manchmal hört man die Aussage: „So würde niemand angreifen.“ Doch wer kann das wirklich wissen? Es gibt Täter, die planlos oder unüberlegt handeln. Manche zeigen ihre Waffe offen, andere vergessen, sie in die vermeintlich „richtige“ Hand zu nehmen. Manche handeln impulsiv, andere kalkuliert. Es gibt keine Garantie für ein bestimmtes Verhalten – nur die Gewissheit, dass alles möglich ist.
Deshalb ist es ein Zeichen von Weitsicht und Klugheit, sich mit verschiedensten Szenarien auseinanderzusetzen. Auch solche, die vielleicht unwahrscheinlich erscheinen, verdienen Beachtung, denn sie könnten Realität werden. Ein Angriff, bei dem ein Messer sichtbar geführt wird, oder eine Waffe, die direkt an den Kopf gehalten wird, mag selten sein – aber es ist nicht unmöglich.
Jedes Training, das sich auf das Unvorhersehbare vorbereitet, ist wertvoll. Es zeigt Mut und Offenheit, über das Bekannte hinauszugehen und sich mit Situationen zu beschäftigen, die andere vielleicht ignorieren. Gewalt ist grenzenlos, und unser Verständnis von ihr sollte es auch sein.
Es braucht keine direkte Erfahrung mit Gewalt, um sie zu verstehen. Es geht darum, die Dynamik zu erkennen, sich mit den verschiedenen Formen der Aggression auseinanderzusetzen und zu verstehen, wie man flexibel darauf reagieren kann. Zu lernen, dass es nicht nur um die offensichtlichen, „typischen“ Angriffe geht, sondern auch um die unvorhersehbaren, chaotischen oder ungewöhnlichen Szenarien.
Doch es kann auch passieren, dass Menschen mit direkter Gewalterfahrung eine eingeschränkte Sichtweise entwickeln. Ihre eigenen Erlebnisse prägen das Verständnis, und sie neigen möglicherweise dazu, Gewalt nur aus ihrer persönlichen Perspektive zu sehen. Diese eingeengte Sichtweise kann dazu führen, dass sie die Vielfalt der möglichen Gewaltformen nicht erkennen und ihre eigenen Antworten und Lösungen auf ein begrenztes Set von Szenarien fokussieren. Dadurch wird die Fähigkeit zur Flexibilität eingeschränkt und sie übersehen möglicherweise Lösungen, die in anderen Kontexten oder unter anderen Umständen effektiver sein könnten.
Wenn man möchte, kann man bei jeder Videoanalyse sowohl Angriff als auch Verteidigung ins Negative zerlegen. Schließlich weiß man bereits, wie der Angriff kommt und wie die Situation ausgeht. Doch ist das wirklich der Sinn des Lernens? Wer Techniken und Angriffe begrenzt, begrenzt auch die Möglichkeiten seiner Schüler. Indem man sich nur mit dem „Wahrscheinlichen“ beschäftigt, beraubt man sie der Fähigkeit, flexibel und kreativ auf das „Unwahrscheinliche“ zu reagieren.
Selbst aus Techniken, die auf den ersten Blick fragwürdig erscheinen oder vielleicht zum Scheitern verurteilt sind, kann man wertvolle Erkenntnisse gewinnen. Indem man Varianten und Alternativen durchspielt, lernt man nicht nur Schwächen zu erkennen, sondern trainiert auch die Fähigkeit, flexibel zu reagieren. Dieses Üben von Möglichkeiten – auch jenseits der Perfektion – ist das, was am Ende den Unterschied macht.
Wenn jemand andere herabsetzt oder sich über sie lustig macht, weil sie solche Szenarien durchspielen, sollten wir innehalten und selbst nachdenken:
- Ist es nicht besser, vorbereitet zu sein, als überrascht zu werden?
- Ist es nicht weise, die Vielfalt möglicher Situationen zu berücksichtigen, statt sie abzulehnen?
- Und ist es nicht respektvoller, anstatt Menschen oder Techniken lächerlich zu machen, zu erkennen, dass auch aus fragwürdigen Methoden oder Fehlern etwas Wertvolles gelernt werden kann?
Denn am Ende ist das Ziel nicht, wer „recht“ hat, sondern wer bereit ist. Gewalt lässt sich nicht vorhersehen und niemand kann sagen, wie der nächste Moment aussehen wird – weder in der Selbstverteidigung noch im Leben.
Lasst uns daher Respekt vor allen zeigen, die ihren Weg gehen, und lasst uns selbst wachsam und offen bleiben. Denkt nach, bevor ihr urteilt, denn die Realität ist oft anders, als wir glauben.
Kathy Krocker